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Der Betriebsleiter 11/2016

Der Betriebsleiter 11/2016

Kurze Taktzeiten, hohe

Kurze Taktzeiten, hohe Varianz und mehr Fertigung von Sicherungsautomaten auf dem Niveau von Industrie 4.0 Die Redaktion hatte im Juli dieses Jahres die Gelegenheit, sich eine neue, voll automatisierte Montageanlage für Sicherungsautomaten bei ABB Stotz-Kontakt in Heidelberg anzusehen. Wir waren beeindruckt, denn hier ist Industrie 4.0 bereits wirklich Realität. In Heidelberg, dem wichtigsten Standort von ABB Stotz-Kontakt weltweit, hat das Unternehmen die neue Fertigungslinie ML2 entwickelt und in Betrieb genommen. Grund für die Investition war die Einschätzung, dass die Produktion von Sicherungsautomaten für Niederspannungsanwendungen in Zukunft durch hohe Anforderungen an die Flexibilität der Anlage geprägt sein würde. „Immer mehr Kunden fragen viele Schaltervarianten nach, zudem auch häufig Spezialtypen in kleiner Losgröße. Um die dafür notwendige Flexibilität wirtschaftlich und prozesssicher zu erreichen, haben wir eine automatische Fertigung mit möglichst geringem Rüstaufwand konzipiert“, erläutert Frank Mühlon, Geschäftsführer bei ABB Stotz-Kontakt und weltweit für das Geschäft mit DIN-Rail und Sicherungsautomaten verantwortlich. „Unser wichtigstes Ziel war die Entkoppelung zwischen den Elementen der Linie“, sagt Frank Mühlon. „Damit wird das Rüsten für eine andere Schalterart möglich, während die Anlage läuft.“ Ein wesentlicher Teil der Lösung sind ABB-Industrieroboter: Die ML2 besitzt Montagekreise, zwischen denen sich Pufferlager mit Robotern des Typs IRB 1600 befinden. Die Roboter entnehmen die Teile automatisch aus einem Montagekreis und palettieren sie. Im Idealfall eines direkten Durchlaufs ist das Robotersystem in Wartestellung und die Montagekreise versorgen sich direkt. Alternativ – und das ist eine wesentliche Basis für die Flexibilität der ML2 – bauen die Roboter analysieren eine große Datenmenge aus der Fertigung, beispielsweise Qualitätsdaten aus dem Testing oder Daten aus den Montagekreisen, und schaffen über den individuellen QR-Code, den jeder Schalter zu Beginn erhält, vollkommene Traceability. Der hohe Automatisierungsgrad erlaubt, auch an einem Hochkostenstandort sehr wirtschaftlich zu produzieren einen Teilepuffer auf, während gleichzeitig umgerüstet wird und schon eine neue Gerätekonfiguration anläuft. Daten weltweit verfügbar Mit der weltweiten Kooperation zwischen verschiedenen Konzernstandorten wächst für ABB auch der Bedarf und der Nutzen eines leistungsfähigen Datenmanagements. „Die ML2 und die Sicherungsautomaten- Produktion an den anderen ABB-Standorten sind schon voll in der Industrie 4.0 angekommen und stehen für das Konzept des Internets of Things, Services und People (IoTSP), das ABB verfolgt“, sagt Frank Mühlon. „Wir Hinzu kommen Analysen, mit deren Hilfe wir die Vorfertigung je nach Bedarf steuern können. Das ganze geschieht über eine von uns eigens entwickelte Software, die die Daten weltweit visuell verfügbar macht – und zugleich bei Fragen oder Problemen die Möglichkeit zur Ferndiagnose und Onlinewartung bietet.“ Kompetenz im Maschinenbau Nicht nur die Software zur weltweiten Live- Datenanalyse stammt von ABB. Die neue Fertigungslinie ML2 ist zugleich ein gelungenes Beispiel für die hohe Maschinenbaukompetenz des Unternehmens. Die 24 Der Betriebsleiter 11-12/2016

MONTAGE- UND HANDHABUNGSTECHNIK Konstruktion leistete ABB Stotz-Kontakt hausintern, ausgelegt und realisiert hat die Anlage der eigene Betriebsmittelbau. Viel spezifisches Know-how aus dem eigenen Konzern kommt zum Einsatz: Von den Robotics-Systemen über die Antriebe bis hin zur Sicherheitstechnik stammen zahlreiche Komponenten von ABB. Besonders auffällig ist die kompakte, platzsparende Aufstellung der einzelnen Stationen. Sie wird dadurch erreicht, dass für die Energieversorgung der Maschinen keine separat stehenden Schaltschränke erforderlich sind. „Es gibt eine zentrale Energieeinspeisung für die gesamte Anlage, die in einem Schrank untergebracht ist“, erklärt Erhan Serbest, Leiter Operations Line Protection bei ABB Stotz-Kontakt. „Jede Maschine ist autark und kommt ohne zusätzlichen Schaltschrank aus. Wir haben sämtliche Elektronikkomponenten unterhalb der Maschinen verbaut. Daher können wir mit kürzeren Leitungen arbeiten und sind so weniger fehleranfällig.“ Neues Level der Automatisierung Mit der ML2 erreicht ABB Stotz-Kontakt ein neues Level der Automatisierung bei der Fertigung von Sicherungsautomaten. „Unseren Grundsatz ‚Keine Hand am Gerät‘ setzen wir ab der Materialbereitstellung in die Tat um“, sagt Patrick Claeys, der als Projektleiter die Realisierung der Produktionslinie verantwortete. „Auf der Linie können wir bis zu 600 Pol-Varianten fertigen.“ Die 60 Meter lange Anlage besteht aus sechs Einzelstationen, die an das Pollager angekoppelt sind und miteinander kommunizieren. Anhand der übermittelten Daten, lassen sich etwaige Störungen schnell lokalisieren und beheben. Auf der Fertigungslinie sind insgesamt sieben ABB-Roboter der Typen IRB 1600 und IRB 360 Flex Picker im Einsatz. Am Ende der Fertigungsstrecke sind die Sicherungsautomaten fertig verpackt bereit zur Auslieferung. Im Sinne der Lean-Philosophie soll die Maschine zur Endmontage ständig laufen. Dafür wird im Vorbereich Material in der richtigen Varianz bereitgestellt. Dazu zählen z. B. hoch komplexe Schaltbaugruppen, die sich nur von Hand montieren lassen. Diese Komponenten werden in Bulgarien gefertigt, anschließend auf Trays palettiert und von einem IRB 1600 in den automatisierten Prozess eingebracht. „Der Roboter muss die Baugruppen lagerichtig ent nehmen, damit sie nicht beschädigt werden, und der Anlage zuführen“, sagt Erhan Serbest. „Bei der Greif- und Setzgenauigkeit sind lediglich Toleranzen im Zehntelmillimeterbereich zulässig.“ Das Herzstück der Flexibilisierung des Fertigungsprozesses auf der ML2 bildet der IRB 360 Flex Picker. Der Roboter bestückt jedes Schaltergehäuse mit der passenden Spule, die er mit vorgegebener Geschwindigkeit aus der ungeordneten Menge auf einem Transportband greift. Über zwei Kameras erkennt er, welche Spule geeignet positioniert ist, nimmt diese auf und setzt sie in einen Werkstückträger ein. Die nicht gegriffenen Spulen werden der Anlage über ein Endlosband von Neuem zugeführt. Der Flex Picker kann – ohne, dass eine Umrüstung erforderlich ist – elf unterschiedliche Spulenvarianten greifen. Seit dem 1. Mai 2016 ist die Fertigungslinie ML2 bei vollem planmäßigem Ausstoß an sechs Tagen pro Woche in drei Schichten in Betrieb. Vier Mitarbeiter betreuen pro Schicht die Fertigungslinie, ein weiterer die Prüfanlage. Zum Einsatz kommen ausschließlich spezialisierte Facharbeiter. Der hohe Automatisierungsgrad der neuen ML2 versetzt ABB Stotz-Kontakt in die Lage, auch an einem Hochkostenstandort in Deutschland sehr wirtschaftlich zu produzieren. Insgesamt verfügt ABB Stotz-Kontakt mit Inbetriebnahme der ML2 am Standort Heidelberg über die Möglichkeit, die dreifache Anzahl Varianten von Sicherungsautomaten zu fertigen. Die 60 Meter lange Montageanlage besteht aus sechs autarken Einzelstationen STATEMENT Dr. Michael Döppert, Chefredakteur Viele reden von Industrie 4.0. Wir fragen immer wieder: Wie wird Industrie 4.0 einmal aussehen? Für die Produktion von Sicherungsautomaten gibt ABB Stotz-Kontakt heute schon das Bild – sprich die Antwort. Trotz gesteigerter Varianz und kleineren Losgrößen konnte durch das hier realisierte Anlagen-, Materialflussund Datenmanagement-Konzept dennoch auch die Ausbringung erhöht werden – und damit wurden Produktivität und letztlich Wettbewerbsfähigkeit gesteigert. Lagen die rechnerischen Umrüstzeiten in der Vorgängeranlage im Minutenbereich, so liegen sie jetzt in der „Industrie 4.0-Anlage“ im Sekundenbereich – beeindruckend! Potenzial durch Industrie 4.0 Das Know-how einer leistungsfähigen Produktion von der Vorfertigung bis zur Endmontage muss immer auch beim Materialfluss vorhanden sein. „Wenn die Zuführung nicht funktioniert, steht die Anlage trotz aller Automatisierung still. Die Vernetzung bietet uns weitreichende Möglichkeiten, um die Maschinen remote im Blick zu haben, etwaige Engpässe zu erkennen und anhand der Daten abzuleiten, wo wir nachsteuern müssen“, sagt Erhan Serbest. „Wir rechnen damit, hier in Zukunft viel Poten zial einbringen zu können, denn es zählt immer das Gesamtbild: von den Menschen angefangen, über die Automatisierungslösung bis hin zu den Materialflüssen, das ganze vernetzt und gesteuert mithilfe von Technologien der Industrie 4.0.“ Bilder: ABB Stotz-Kontakt www. abb.de Im Fokus Effizienz Sicherheit Nachhaltigkeit Der Betriebsleiter 11-12/2016 25

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